Philipp Kremer - Soft People
In Philipp Kremers Gemälden sind Inhalt und Form konfliktträchtig, ebenso die Interaktion zwischen beiden. Seine formale Herangehensweise scheint oft dem Motiv zu widersprechen, zum Beispiel wenn er Farben per Zufall wählt um eine utopische Gemeinschaft darzustellen, oder wenn er eine Orgie so malt als sei das Bild abstrakt und monochrom. Während fast alle seine Motive, seien es Mädchen und Pferde, Kommunen, Weinen oder Sex, soziale Situationen darstellen in denen als solche Machtverhältnisse immer eine Rolle spielen, werden diese in der neuesten Serie Soft People in den Vordergrund gestellt.
Nachdem Gatherings Gruppen von Menschen in harmonievoller Ausübung sexueller Aktivitäten zeigte, werden in Soft People physische Gewalt und Dominanz thematisiert. Zwei, allenfalls drei oder vier Körper interagieren in ungleichen Machtverhältnissen, in einem weitgehend undefinierten Kontext. Ausgeführt in hellen Farben mit leichten Gesten auf weißer Leinwand, erscheint der Stil spielerisch, als bestehe er fast darauf, den freudigen Aspekt der Malerei hervorzuheben.
Die Provokation dieser Bilder liegt in der Frage, warum Gewalt und Leichtigkeit zusammengebracht worden sind. Wenn die Entscheidung, etwas darzustellen bedeutet dass man dieser Sache eine gewisse positive Bedeutung gibt, und etwas zu malen bedeutet, dass man gefühlsmäßig darauf eingeht, wie ist es dann möglich, etwas schmerzhaftes zu darzustellen, ohne irgendwo in dem Prozess Spaß zu haben? Daher müssen die Bilder mit Freude gemalt werden, und Künstler und Betrachter finden sich in der widernatürlichen Situation, das Freudige und das Schmerzliche gleichzeitig konfrontieren zu müssen.
Philipp Kremer (*1981) lebt und arbeitet in Berlin. Er studierte an der Universität der Künste Berlin bei Professor Georg Baselitz (2000-2004) und an der Rijksakademie in Amsterdam (2011-2012). Aktuelle Einzelausstellungen hatte er unter anderen in der Galerie Nicodim, Los Angeles und Bukarest; Kazachenko’s Apartment, Oslo; Apice for Artists, Amsterdam und Galerie Lena Brüning, Berlin. In 2013 erhielt er die Königlichen Preis für Freie Malerei. In 2014 erhielt er das Stipendium für etablierte Künstler des Mondriaan Fonds.
KroOt
KroOt Juurak
Auf Einladung des Kunstvereins Langenhagen übernimmt die estnische Künstlerin KroOt Juurak (Tallinn, 1981) sowohl Raum als auch Kontext eben dieser Kunstinstitution. Anstatt mit Objekten zu vermitteln, arbeitet sie mit anderen Formen der Transmission: Sie kommuniziert durch und mit Bewegungen, Sprache(n), Stimmungen, Missverständnissen, Annahmen oder physischen Empfindungen. Ihre Arbeit ist ephemer und stimuliert oftmals andere Sinne als den visuellen. Dennoch ist ihre Arbeit sehr kommunikativ. Sie hinterfragt und fokussiert oft auf Klischees und Erwartungen innerhalb alltäglicher Kommunikation. Eine der Kernfragen, auf der ihre Arbeit fußt, ist: Was vermittelt man (als Künstler) und für wen?
Während des Ausstellungszeitraums ändert KroOt Juurak ihren Namen zu KroOt. Mit diesem Akt wird ihr Name zu einem Ort, der an andere Künstler vermietet wird, von denen einige KroOt als Plattform benutzen werden, zu performen. Als KroOt Juurak 2014 das V NU Performance Festival kuratierte, schrieb sie, dass ein Teil von ihr sich, wenn sie eine Arbeit sehr wertschätzt, vorstellt, dass diese von ihr selbst sei. Das ist exakt das, was durch die Änderung ihres Namens und die Inanspruchnahme desselben durch andere "Nutzer" passiert - ein Akt, der gleichermaßen danach fragt, wer produziert und wer konsumiert.
Die Ausstellung zeigt Performances die nicht wirklich Performances sind, Künstler, die Künstler oder auch keine Künstler sein können und Performer, die performen oder dies auch eben nicht tun. Es gibt nicht viele Momente, in denen man "sich setzen und zuschauen" kann - weil die Performances auch die Formen von Workshops, Stimmungen, Konversationen oder einer Bewegung annehmen werden. Jedes der Werke könnte die komplette Ausstellung repräsentieren. In anderen Worten: die Ausstellung besteht nicht aus Werken, sie ist in jedem Werk.
Neben einer Anzahl von temporären Veranstaltungen, die im weiteren Verlauf in detaillierter beschrieben werden, wird Ihr Besuch der Ausstellung durch einen Audio-Guide und eine externe Stimmung begleitet, damit wird die Ausstellung als eine andauernde Performance adressiert. Ein Audio-Guide ist ein bekanntes Instrument, welches in Kunstinstitutionen benutzt wird, um Besuchern zusätzliche Informationen über die ausgestellten Werke zu vermitteln. In KroOt wird der durch den Audio-Guide geführte Besucher zum Protagonist in einer nonvisuellen "Ausstellung". Bad Mood, außerdem während des Ausstellungszeitraum zu erleben, wird sich selbst durch Besitzergreifung der Mitarbeiter des Kunstvereins darstellen und damit jeden Besucher mit beeinflussen.
Kroot Juurak, (geb. 1981, Tallinn), ist eine Choreografin und Performance-Künstlerin, deren Arbeit, die aus Performances, Präsentationen, Texten, Workshops und Stimmungsänderungen besteht, die Grenzen zwischen Performance und Choreografie angreift. Sie graduierte 2003 in Tanz und Choreografie am ArtEZ, Arnhem und erhielt einen MA in Freier Kunst am Sandberg Institute, Amsterdam. Sie zeigte ihre Arbeiten in einer Vielzahl von Formen, unter Ander an folgenden Orten: Tallinn Art Hall (2017), International Figurentheater Festival Erlangen (2015), Stromereien Festival, Zürich (2014), Tanzquartier Wien (2013), Ellen de Bruijne Projects, Amsterdam (2013), Venice Biennale “oO” Pavillion (2013), Mindaugas Triennial, Contemporary Art Center, Vilnius (2012), ImPulsTanz, Wien (2012), de Appel Art Centre, Amsterdam (2012), Super deLuxe, Tokyo (2011), Künstlerhaus Büchsenhausen, Innsbruck (2010) und deSingel, Antwerpen (2008).
Stefano Calligaro – Wie man in der Öffentlichkeit pisst
Wie kann man, als Künstler, widerstehen und gleichzeitig nicht aufhören zu produzieren? Wie kann man in einem Kunstbereich arbeiten, den man verachtet, aber in dem man dennoch funktioniert? Zentrale Frage in Stefano Calligaros Arbeitsweise – vom Beginn einer Idee oder Geste bis zum physischen Ergebnis – ist die Frage, WARUM und WAS man als Künstler produziert. Die Antworten auf diese Fragen findet Calligaro in der Absurdität und in der Ablehnung einer gewissen Virtuosität. Die sogenannten Produkte aus Calligaros Händen sind das Ergebnis von "schnellen Gedanken, die aus anderen schnellen Gedanken hervorgehen und rasch auf verschiedene Oberflächen übertragen werden". Das gesamte Projekt, einschließlich der aus einer E-Mailkorrespondenz zwischen Calligaro mit den Künstlern Kurt Ryslavy und QS Serafijn zu den oben genannten – und vielen weiteren – Themen bestehenden Publikation, dreht sich um die Mischung von sogenannter künstlerischer Freiheit und Machtbeziehungen, die beide ständig auf dem Spiel stehen.
Downloads: KVLBulletin01Calligaro
aroundabout Jack Jaeger
Jack Jaeger (1937-2013) begann “Kunstdinge” zu machen, wie er in einem seiner wenigen Kommentare schrieb, nachdem er bereits seine Karriere als Cutter, Kameramann, Produzent und Regisseur von Commercials, Fernsehproduktionen und Spielfilmen hinter sich gelassen hatte. Sein künstlerischen Schaffen beginnt um 1978, “während des Nachdenkens über Fotografie und den dann aktuellen Diskurs mit Susan Sontag und Roland Barthes.“
Jaegers Arbeit ist eine spielerische Untersuchung des Wesens der Fotografie. Seine Techniken und die Wahl der Materialien sind abgekoppelt von künstlerischer Virtuosität. Er nutzte gewöhnliche, wenig heldenhafte Objekte, gefunden in seiner alltäglichen Umgebung, oder farbige Oberflächen, die er fotografierte und zu Assemblagen verarbeitete. Diese Objekte referieren ebenso auf sich selbst wie auch auf die Doppeldeutigkeit und Illusion des fotografierten Bildes. Er behandelte seine gemachten Fotografien regelmäßig als Objekte, indem er sie als sich wiederholende Elemente einsetzte und sie in verschiedenen Positionen und Zusammenhängen formte. Oft waren seine Werke durch Bolzen, Schrauben und Muttern oder Kabel zusammengefügt, eine bewusste Ergänzung visueller Elemente.
Neben seinen künstlerischen Aktivitäten arbeitete er als Kurator und Redakteur. Sein Netzwerk von Interessen und Kontakten war weit gespannt. Zusammen mit seiner Partnerin, der Künstlerin Lily van der Stokker, reiste er viel und war bei vielen Ausstellungen und Veranstaltungen präsent. Als Kurator war er angetrieben von seiner Neugier für neue Entwicklungen, nicht durch den Wunsch zu theoretisieren oder Trends anzuzeigen. Seine bahnbrechenden und eigenwilligen Ausstellungen bewegten sich um das Medium der Fotografie oder fokussierten sich auf das Werk von Künstlern, die ihre Arbeit nicht auf die bildende Kunst beschränkten.
Trotz seiner kuratorischen Abneigung für Konventionen war er sehr gut informiert und stellte oft Arbeiten von später sehr bekannten Künstlern wie Elke Krystufek, Wolfgang Tillmanns, Jeremy Deller und Philippe Parreno vor. Beispiele schließen ein: Mechanical reproduction mit den Künstlern Sylvie Fleury, Henry Bond und Liam Gillick (Galerie van Gelder, Amsterdam, 1994); Please don’t hurt me, eine Ausstellung über Gewalt, mit Arbeiten von Krystufek, Van der Stokker und Bob Flanagan (Gallery Snoei, Rotterdam und Cabinet Gallery, London, 1994); oder Bring your own walkman mit Arbeiten und Performances von Künstlern wie Martin Creed, Bob & Roberta Smith und The Red Krayola (W139, Amsterdam, 1997). Neben seinen Aktivitäten als Künstler und Kurator brachte er eine umfangreiche Sammlung von Fotografien zusammen, die von späten 19. Jahrhundert bis in die Neuzeit datieren und als eine Repräsentation seiner Art des Sehens betrachtet werden können. In den neunziger Jahren war Jaeger auch ein aktiver Reporter des Zapp Magazins, eines wegweisenden Kunstmagazins auf VHS.
Während er seine Arbeit und seine Beschäftigungen sehr ernst nahm, formen seine Objekte und Projekte einen Gegensatz für Praktiken, die sich selbst große Bedeutung zuschreiben. Seine Assemblagen sind großzügige Objekte, die einen Dialog zwischen bewegtem und unbewegtem Bild, Modernismus und den Werken anderer Künstler zu initiieren versuchen. Auch wenn sein spätes Werk, das hauptsächlich die Form von Lampen annahm, wortwörtlich und bildhaft das Wesen der Fotografie erhellt und beleuchtet, ist Jaegers Oeuvre nicht allzu öffentlich. Er stellte verhältnismäßig wenig aus und nicht vielen waren seine Aktivitäten als Künstler bewusst. In seiner Ausstellung im Kunstverein Langenhagen, die zusammen mit Mieke van Schaijk entwickelt wird, formen Jaegers Arbeiten den Kern der Präsentation, zu denen einige Arbeiten von gleichgesinnten Künstlern als 'Konversationspartner' hinzugefügt werden, unter diesen Anne Collier, Wjm Kok, Rachel Harrison, Aloïs Godinat, Anne Daems, B. Wurtz, Steel Stillman, Michaela Meise und Wolfgang Tillmans.
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Der erweiterte Blick
Mit Oriol Vilanova, Thomas Geiger, Helen Mirra, Hendrik-Jan Hunneman, Marijn van Kreij und Samuel Beckett.
Der Kunstverein Langenhagen ist ein Projektraum, der am besten als eine “Institution zur Sichtbarmachung” beschrieben werden kann. Sie will zeigen; sie bietet Künstler*innen und Ihren Arbeiten eine offene und öffentliche Plattform. Ein ähnliches Motiv liegt in der Basis einer künstlerischen Praxis: ein Künstler oder eine Künstlerin beteiligt sich an der Welt durch seine oder ihre Arbeit. Durch diesen Prozess der Sichtbarmachung betreten Künstler und Institution eine nicht mehr neutrale, subjektive Position. Der erweiterte Blick dreht sich um die Politik der Sichtbarkeit und geht auf Strategien der Präsentation und Repräsentation ein. Wie und wo werden normative Formen destabilisiert? Wie sind die Positionen und Beziehungen der verschiedenen "Akteure" innerhalb einer Ausstellung? Und was bedeutet der Akt des Sehens für die Position des Betrachters? Der erweiterte Blick kann als eine Aktivität verstanden werden, in der die Ausstellung sich während der Laufzeit verändert, indem Werke neu positioniert, hinzugefügt oder weggenommen werden. Das Prinzip der Bewegung formt zudem den Kern der meisten der gezeigten Arbeiten – sie sind mobil, leicht oder der Veränderung unterworfen. Weiter sind Künstler während der Laufzeit der Schau eingeladen, auf sie zu reagieren. Diese “Aktionen” - mit oder innerhalb der Arbeiten – betonen, dass eine Ausstellung offen und mobil ist und daher Bedeutungen, wie unser Blick, veränderbar sind.
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Die wechselnde Erscheinung
Mit Arbeiten von Anna, Stefano Calligaro, Dina Danish, Hendrik-Jan Hunneman, Rhoda Kellogg, Christopher Knowles, Marijn van Kreij und Isabel Nolan
“Ein Objekt ist nicht so an seinen Namen gebunden dass man nicht einen anderen finden könnte, der besser zu ihm passt.” - René Magritte in Die Worte und die Bilder, 1929
Die wechselnde Erscheinung spricht von der Mehrdeutigkeit der Dinge (und der Kunst) und der Allgegenwart dieser Ambiguität. Mehrdeutigkeit liegt nicht nur in den Kunstwerken und deren Schöpfern selbst, sondern sie ist auch präsent in den Augen des Betrachters, und sie wird durch den Kontext, in dem etwas gezeigt wird, noch verstärkt.
Obwohl ein Kunstobjekt mit dem tiefgehenden Bedürfnis gemacht wird, zu kommunizieren und ein aktiver Teil der Welt zu werden, will und kann es dies nicht auf eindeutige Weise. Es ist ‚multipel’. Zusätzlich zur individuellen Ambiguität eines Artefakts ist ein solches nur selten isoliert, sondern in einem Netz von Beziehungen situiert. Henri Matisse sagte einst: “Das Objekt ist ein Schauspieler. Ein guter Schauspieler kann eine Rolle in zehn verschiedenen Stücken annehmen; ein Objekt kann eine Rolle in zehn verschiedenen Bildern spielen.” Objekte verändern sich, indem und während sie mit dem Ort und den Objekten um sie herum interagieren.
Die wechselnde Erscheinung ist Hin- und Rückverweis auf die vorherige Ausstellung Der erweiterte Blick, die den Fokus auf Sichtbarkeit, Transformation als Bestandteil des Kunstwerks und die Metamorphose der Ausstellung als Ganzes richtete. Im Begleittext zu Der erweiterte Blick wurde der Künstler René Daniëls zitiert, der einmal sagte: "Eine Ausstellung ist immer Teil eines größeren Ganzen." In diesem Zusammenhang mag man sich fragen: was ist eine Ausstellung und - was noch wichtiger für diese Präsentation ist - was könnte dann die nächste Ausstellung sein?
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Freiraum für Gedanken und Bauwerke
Ganz nach der Devise „Freiraum für Alle!“ stellt der Kunstverein Langenhagen in diesem Sommer kleinen und großen Gestaltungswilligen seine Räume und Außengelände zur freien Entfaltung und Umsetzung eigener Ideen zur Verfügung. Damit transformiert der Kunstverein zum fortlaufenden Raumlabor, in dem es dieses Mal für die BesucherInnen nicht um die Interaktion mit Kunstwerken geht, sondern darum, den Raum mit eigenen Arbeiten selbst zu gestalten.
Der Kunstverein bietet hiermit Menschen aller Altersgruppen und Kulturen die Möglichkeit, selbstmotiviert aktiv und kreativ zu werden. Das Stichwort hierzu ist Selbstermächtigungen. Einige der Fragen, die im Projekt diskutiert werden sollen, sind: Was bedeutet „Freiraum“ in der heutigen Zeit, ohne in Utopien festzufahren? Wie können und wollen wir zusammenarbeiten? Was bedeutet Partizipation und Zusammengehörigkeit in einer Gruppe unterschiedlicher Menschen?
Mit einfachen Materialien, den eigenen Ideen und im guten Austausch untereinander bauen wir den ganzen Sommer in verschiedenen kostenlosen Workshops an einem gemeinsamen Raum. Nach Herzenslust darf gesägt, gehämmert, gebohrt, gebunden, gewebt, genäht und gemalert werden. Baumaterial ist vor Ort vorhanden und kann aus eigenen Kellern, Garagen oder auch spontan vom Sperrmüll mitgebracht werden. Parallel hierzu werden in den Kunstvereinsräumen und im Garten Gespräche und Diskussionsrunden organisiert, in denen wir über Freiräume, Spiel, Partizipation und Interaktion diskutieren.
Begleitet wird das Projekt von professionellen KünstlerInnen, die anders als für gewöhnlich, den Ort nicht selbst bespielen, sondern mit den ‘bauwütigen’ Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen auf Augenhöhe zusammenarbeiten. Es wird Raum gegeben zum Austausch von Ideen, zum Diskutieren, Experimentieren, Planen und Bauen und gemeinsamer Brotzeit.
Das Ausstellungskonzept des Kunstvereins Langenhagen greift damit den pädagogischen Ansatz des italienischen Architekten, Designers und Künstlers Riccardo Dalisi auf, der in den 70er Jahren mit seinen Studierenden in einem Neubaugebiet vor Neapel einen kreativen Raum außerhalb der Wände und Zwänge der Institutionen bot und den in Hochhaussiedlungen lebenden Menschen Raum zur eigenen Gestaltung ihrer Lebenswelt ermöglichte. Seine damals wie heute radikalen Prinzipien waren: keine Hierarchien zwischen Kindern und Erwachsenen oder Laien und Profis; alle Beteiligten lernen durch Erfahrung und Verwendung einfacher, alltäglicher Materialien und Techniken; freies Konstruieren und Zulassen von Zerstörung. In diesem Sinne wird es auf der FREIRAUM FÜR GEDANKEN UND BAUWERKE auferlegten Zweck geben außer dem Vergnügen, etwas zu machen und der Möglichkeit, im Prozess neues zu lernen. Wie bei Dalisi, der als einer der Hauptakteure der Anti-Design-Debatte (1960/70er Jahre) für die kreative Fähigkeit jedes einzelnen Individuums und gegen das Konsumdenken plädierte, geht es hier um Selbstermächtigung, Freiheit und Gleichheit im Tun, um ‘einfache Technik – öffentliche Teilhabe’.
Dass der Kunstverein mit seinem radikalen Konzept und Sommerprojekt die Rollen und Funktionen von KünstlerInnen, BesucherInnen, der Kunstinstitution und Kunstvermittlung hinterfragt, versteht sich von selbst.
Isabel Nolan - Ein Fuß in der Welt
Die neue Saison im Kunstverein Langenhagen beginnt mit einer Einzelausstellung der irischen Künstlerin Isabel Nolan (Dublin, 1974). Ein Fuß in der Welt ist die dritte in einer Reihe von Ausstellungen, die zuvor in der Douglas Hyde Gallery in Dublin (Calling on Gravity, 2017) und im Grazer Kunstverein (Curling Up with Reality, 2017-18) stattfanden. Der Fokus der Ausstellungsserie liegt auf der Frage, wie durch menschliche Aktivität Sinn in die Welt gebracht wird. In dem Text 'Ein Fuß in der Welt. Vier Gedanken', der speziell zu dieser Ausstellung geschrieben und in diesem Bulletin veröffentlicht ist, spricht Nolan über die Angewohnheit, unsere Umwelt so wahrzunehmen und unsere Erfahrungen so zu ordnen, dass sie Hierarchien von höher und tiefer, oben und unten entsprechen. Dieses Streben manifestiert sich nicht nur in Glaubenssystemen mit begleitender Symbolik – die christliche Kathedrale als ein kategorisches Beispiel, Gott näher zu kommen und damit die Körperlichkeit und andere weltliche Nichtigkeiten hinter sich zu lassen - sondern auch in dem Wunsch, den Tod durch Kultur zu überwinden und damit in Erinnerung zu bleiben. Der Wunsch, den Menschen immer emporzuheben, über unsere animalische Natur hinauszuwachsen und dem Tod wie auch der Schwerkraft zu trotzen, zieht sich durch die Technologien, Geschichten und Kunstwerke, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. In der Ausstellung wird die Faszination der Künstlerin für das ‚Niedrige’ auf subtile Weise herausgearbeitet. Ihre Arbeiten, zu denen hängende und bodenbezogene Skulpturen, Bilder, Fotografien und auch der zuvor genannte Text gehören, heben das Niedrige und bringen es buchstäblich und im übertragenen Sinne auf eine andere Ebene. Mehrere Fotos zeigen den menschlichen (und manchmal tierischen) Teil des Körpers, der dem Boden am nächsten ist: die Füße. In mehreren Werken porträtiert Nolan auch den Boden selbst, sowohl in erhabenen als auch in vernachlässigten Zuständen. Die Dekoration liest sich hier als ein Versuch, der irdischen Unreinheit zu entgehen und zu leugnen, dass wir denselben Boden wie unmenschliche (und vermeintlich geistlose) Wesen besetzen.
Die Ausstellungstitel spitzt sich auf die Füße zu, den Teil unseres Körpers, der uns mit der mit der Welt verankert und uns aufrecht und mobil hält. Dennoch bezieht er sich auch auf das Wissen um unsere Sterblichkeit, deren Kenntnis uns irgendwie noch härter zum Versuch treibt, diese Unausweichlichkeit zu umgehen. In einem Text, der Teil der Ausstellung Calling on Gravity war, spricht Nolan über den Wunsch des Menschen, ungebundene Empfindungen in Materie zu verwandeln, in eine Struktur, ein Votivobjekt, ein Kunstwerk oder vielleicht sogar ein Ritual, um ihre Gültigkeit zu stärken. Im Gegensatz dazu scheint das Verlangen in dieser Arbeit nach Intimität, nach Kontakt mit der Welt, mit Tieren und anderen Menschen zu sein. Große Abstraktion begegnet man mit einem bunten Grab, handgemachtem Staub, einem gefallenen, nicht funktionierenden Kronleuchter und mit Porträts von drei Personen, die auf unterschiedliche Weise versuchten, die Welt und die Menschen zu lieben, und einem, der es nicht tat. Ein unkompliziertes Verlangen der Künstlerin, irgendwie eine komplizierte Welt zu lieben. Diese elementaren Themen und damit verbundene zutiefst existentielle Auseinandersetzung werden im Ausstellungsraum von Nolan atmosphärisch in Pastelltöne getaucht, die auch in einigen Ihrer Werke aufscheinen und der Schwere und Tiefe der Themen einen sanften Zugang ermöglichen.
Ein Fuß in der Welt findet nicht nur in der ehemaligen Kegelbahn des Kunstvereins Langenhagen statt, sondern auch in der ehemaligen Kapelle im Eichenpark, dem Stadtpark von Langenhagen. Dieser Ort hatte früher auch manchmal als Ausstellungskontext gedient. Es scheint angemessen, dieses spezifische Gebäude im Eichenpark zu nutzen, der seit 1862 Sitz einer psychiatrischen Anstalt war, zunächst nur für Kinder, dann auch für Erwachsene. Die Institution war weitgehend autark und die Toten wurden auf dem Gelände selbst begraben, wo die Kapelle auch als Leichenhalle diente und Sektionsräume enthielt. In der Präsentation in der Kapelle sind auch Verbindungen zwischen hoch und niedrig, unten und oben gewebt. An dem Ort, an dem diese nicht beneidenswerten Menschen der Erde (‚in den barmherzigen Händen Gottes’) bestattet werden, wird nun die Unterscheidung zwischen oben und unten, zwischen privilegiert und bemitleidenswert, in eine andere Perspektive versetzt.
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Sie ist die Zukunft - Eine Ausstellung entflammt von Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven
Mit: Karina Bisch, Pauline Curnier Jardin, Sofie Van Loo, Astrid Seme, Jay Tan, Urara Tsuchiya
Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven, die als Else Hildegard Plötz 1874 in Swinemünde, Deutschland geboren wurde und 1910 von Berlin aus in die USA gezogen ist, wird oft als ‚agent provocateur' beschrieben, als eine Proto-Punk-Poetin und -Künstlerin, sogar als Ikonoklastin. In ihrem Leben schrieb sie Poesie, erschuf Körperornamente, Skulpturen und selbstentworfene Kleidungsstücke (‚dada couture’), mit und in denen sie auch performte. Die Praxis der Baronin provozierte Skandale, indem sie neue Fragen aufwarf: Was konstituiert Poesie und Performance? Was sind ihre Ziele? Wo sind ihre Grenzen? Ihr Oeuvre, sowohl ihre (Performativen) Gedichte als auch ihre visuellen Arbeiten, hinterfragt unter Anderem in provokanter Weise die Rolle und den Wert von Frauen und Sex in einer modernen Gesellschaft.
Die Ausstellung 'Sie ist die Zukunft' ist eine Aktivierung ihrer Position und ihres textlichen und visuellen Outputs. Unterschiedliche zeitgenössische Künstlerinnen, Grafikdesignerinnen und Schriftsteller*innen werden auf verschiedene Aspekte der Arbeit der Baronin referieren, zum Beispiel ihre (Proto-) Performances, ihre Behandlung und Nutzung von Kleidung als gemeinsamer Nenner für eine hybride Persönlichkeit, ihre Vermischung von Geschlechterrollen und die Entwicklung moderner Identitäten, ihre Promiskuität und die Haltung, ihren Körper als ein Kunstwerk, sogar als eine Ausstellungsplattform zu sehen.
Downloads: KVLBulletin06Sie ist die Zukunft
Buchveröffentlichung mit Astrid Seme und Performance von Urara Tsuchiya
Buchveröffentlichung von Baroness Elsa's em dashes, einer Publikation der Grafikdesignerin Astrid Seme, entwickelt für die Ausstellung Sie ist die Zukunft. Astrid Seme wird über ihre Arbeit als Designerin in Verbindung mit Gedankenstrichen und die Poesiepraxis von Elsa sprechen. Baroness Elsa’s em dashes - Der Zweck des Gedankenstrichs ist weitreichend - als Aneignung von Stille, als Dissonanz, als Unterbrechung, als Raumbesetzung.
Die Anthologie "Baroness Elsa's em dashes" blickt in die pontierte Nutzung von Gedankenstrichen in den Gedichten der wegweisenden dadaistischen Künstlerin Elsa von Freytag-Loringhoven. Das Publikum findet ihre Werke im Gespräch mit bekannten Dashers wie Gertrude Stein, Lawrence Sterne, Heinrich von Kleist oder Emily Dickinson. Astrid Seme ist eine unabhängige Grafikdesignerin und Gedankenstrich-Autodidaktin mit Sitz in Wien. Baroness Elsa’s em dashes, Astrids letzte Veröffentlichung, eröffnet Generationen von gedruckten und gesprochenen Inhalten, die in Verbindung mit einem einzigen Satzzeichen erstellt wurden und wird aus Untersuchungen aus Bibliographie, Buchgeschichte, Literatur, Soziologie und Typografie abgeleitet.
Performance Urara Tsuchiya - Nach der Buchveröffentlichung folgt eine Performance mit Musik und Text der Künstlerin Urara Tsuchiya, zusammen mit dem Künstler Jack Brennan und der Musikerin Viki Steiri, in der Urara ihre Ghost-Story, die Teil der Ausstellung ist, live spielt und erzählt. Die Performance kommt mit besonderen Cocktails.
Naheliegende Berufe #8 - Redakteurin
Gespräch von und mit Sonja Eismann, Redakteurin und Mitgründerin des Missy-Magazine, Magazine für Pop, Politik und Feminismus
Am 31. Januar 2019 um 19 Uhr lädt der Kunstverein Lagenhagen wieder herzlich zu dem Format 'Naheliegende Berufe’ ein, um einen neue Sicht auf die Ausstellung 'Sie ist die Zukunft. Eine Ausstellung entflammt von Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven' zu erhalten. Eingeladen werden Experten aus thematisch naheliegenden Berufsfeldern, welche an diesem Abend über ihre Arbeit sprechen. Im Hinblick auf die aktuelle Ausstellung wird Sonja Eismann, Redakteurin und Mitgründerin des Missy-Magazine zu Gast sein. Bei einem Gespräch mit ihr über die Arbeit beim Missy-Magazine hören und sprechen wir über die Entwicklung des Feminismus und wie die Rolle der Frau heutzutage ist. Die Teilnahme ist kostenlos.
ERÖFFNUNG: Riese
Riese
Mit Nick Bastis, Liudvikas Buklys, Gintaras Didžiapetris, Dalia Dūdėnaitė, Ona Kvintaite und Elena Narbutaitė
Sechs KünstlerInnen haben sich entschlossen, zwei große Wandgemälde mit dem gemeinsamen Titel RIESE zu erschaffen. RIESE erstreckt sich vom Kunstverein in der Walsroder Straße bis zur ehemaligen Kapelle im Langenhagener Eichenpark. Merkwürdig. Erst im gemeinsamen Malen des Werks in der Woche vor der Eröffnung wird sich das Gemälde entwickeln. Die Figuren und Themen der beiden Wandgemälde können etwas unterschiedlich sein. Der genaue Inhalt und Stil kann erst am 21. Februar erzählt werden, wenn das finale Werk präsentiert wird.
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Kunsthalle 3000* - Ein Ort für dringende Bedürfnisse
Pinkeln ist eine – essentielle – biologische Funktion, die einer starken sozialen Kontrolle unterworfen wurde. Aber diese Kontrolle zu halten, ist für manche schwieriger als für andere. Für viele Menschen ist das Verschwinden öffentlicher Toiletten ein enormes Problem. Ältere Menschen oder schwangere Frauen haben beispielsweise nicht den Luxus einer starken Blase. Sind Sie kein Mann (der in der Lage ist, seine „öffentlichen Toiletten“ an zahlreichen Orten im öffentlichen Raum zu finden) oder im perfekten Gesundheitszustand, ist es kaum vorstellbar, welche mentale Energie es erfordert, ständig damit konfrontiert zu sein, dass die nächste Toilette nicht länger als fünf Minuten entfernt sein sollte. Als (symbolische) Antwort auf diesen Mangel und das Verschwinden öffentlicher Toiletten verwandelt die Kunsthalle3000 eine Toilette im Kunstverein Langenhagen in eine freie, öffentliche Toilette. Ein Schild an der Außenwand kündigt diesen neuen Service des Kunstvereins an und bietet einen Ort für diejenigen, die dringend mal müssen. Eine kleine Skulptur mit dem Titel Eine Ecke zur Erleichterung im Ausstellungsraum ist der Gegenpart zu diesem neuen Angebot: Es handelt sich um die abmodellierte Form von Langenhagens beliebtester Pinkelecke. Ein „Anti-Denkmal“ der von Männern dominierten Sphäre des öffentlichen Urinierens, die zumeist auch auf einen Mangel öffentlicher Toiletten zurückgeht.
- Kunsthalle3000 ist ein Projekt des deutschen Künstlers Thomas Geiger, der für ein Jahr Gast des Kunstverein Langenhagen ist. Als Intervention innerhalb der Institution des Kuntvereins erzeugt die Kunsthalle3000 in diesem Jahr eine Reihe von Situationen, die sich an der Schnittstelle zwischen institutionellem-, privatem- und öffentlichem Raum befinden.
Naheliegende Berufe #9
Bei der neunten Edition von Naheliegende Berufe spricht Martin Schwarz, Bassist und Komponist, ehemaliger Student an der HMTMH in Hannover. Sein Hintergrund als Jazz-Musiker im Bereich Improvisation steht im Einklang mit dem Interesse der sechs litauischen KünstlerInnen, die für die beiden Wandgemälde, die die Ausstellung Riese bilden, verantwortlich sind. Die KünstlerInnen interessieren sich für Improvisation und die Fähigkeit, Geschichten auf unterschiedliche Weise zu erzählen, die sich auch im kollektivem, teils improvisierten Entstehungsprozess der Wandbilder wiederfindet. An diesem Abend sprechen wir mit Martin Schwarz über das Erlernen und die Fähigkeit der Improvisation und wie er sie als Bassist und Komponist in seiner Praxis einsetzt.